Vom besonderen Wert der Körperarbeit

Das Gehen macht das Pulsgefühl sichtbar

(Lesezeit: 06:10 Min.)

ÜBEN HEISST, SICH DEM STÜCK MEHR UND MEHR ZU NÄHERN.

Dabei hilft natürlich, sich musikalisches Wissen anzueignen. Dazu gehören die Fachbegriffe aus der Musiktheorie, aber auch musikhistorisches Wissen, um zum Beispiel den Stil, die Gattung oder die Epoche des Stückes bestimmen zu können. Auch die Kenntnis von berühmten Musiker*innen und deren Interpretationen ist hilfreich. Doch wenn man von Musikalität spricht, meint man vor allem das musikalische Gespür, das nicht nur durch Denken und über den Kopf zugänglich ist. Dieses Spüren ist ein komplexes Zusammenspiel aller Sinne und Körperpartien, die den Ausdruck überzeugend zu vermitteln helfen und die Musik körperlich fühlbar machen. Dem Nachspüren und körperlichen Wahrnehmen von Musik widme ich einen großen Anteil in meiner Unterrichtstätigkeit.

Gerade im Unterricht mit Erwachsenen geht es immer wieder darum, die musikalische Ausübung vom Kopf in den Körper zu verlegen. Nicht das Denken bestimmt die Musik, sondern die Fähigkeit des Nachspürens der musikalischen Energie. Daher gilt es, die Körperwahrnehmung zu steigern und sich die musikalische Bewegung im Körper „bewusst zu machen“.

Im Unterricht mit Kindern verhält es sich zumeist genau umgekehrt. Kinder handeln eher intuitiv und können weniger benennen, was musikalisch gerade geschieht. Diese Fähigkeit entwickelt sich auf jeden Fall mit dem Alter, wenn die verbale Ausdrucksfähigkeit zunimmt. Dennoch ist es sinnvoll, den Prozess zunehmender Wahrnehmung zu unterstützen, um mehr und mehr bewusste Entscheidungen treffen zu können. Auch dieser Weg geht über die Körperwahrnehmung. Wenn ich meine Sinne mit dem Geist erkenne, kann ich sie bewusst einsetzen.

Daher ist für mich die Körperarbeit für das musikalische Lernen unerlässlich. Sehr deutlich kann man dies beim Umgang mit Rhythmus und Puls (bzw. Timing, wie er auch genannt wird) veranschaulichen.

 

GEHEN ALS SPIEGEL DES PULSES

Um das eigene Pulsgefühl spürbar und sichtbar zu machen, lasse ich meine Schüler*innen auf der Stelle gehen. Oft höre ich dann, das Gehen störe beim Spielen und daher könne man nicht einen Takt lang den Rhythmus oder gar die Tonhöhe richtig spielen.

Ich erkläre dann, dass der Rhythmus auf einem gleichmäßigen Puls liege. Die Finger führen den Rhythmus aus, indem sie zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. nach einer bestimmten Zeitdauer den nächsten Griff setzen. Die Beine bewegen sich beim Gehen abwechselnd in gleichbleibender Geschwindigkeit und zeigen so den gleichmäßigen Puls.

Den Bewegungsablauf zeige ich idealerweise optisch, doch diese Möglichkeit habe ich hier jetzt nicht. Daher der Versuch einer Beschreibung: Man kann die Bodenberührung eines Schrittes und das Heben des Knies als Zeitpunkte auf einem gleichmäßig verlaufenden Zeitstrahl definieren. Die Finger bewegen sich manchmal genau bei einer Bodenberührung, manchmal genau auf dem gehobenen Knie oder auch in der Auf- bzw. Abwärtsbewegung des Beines. Je nachdem, ob Viertel, Achtel, punktierte Viertel, punktierte Achtel, Sechszehntel, usw. notiert sind.

Ich kann als Lehrer korrigierend oder helfend eingreifen, indem ich bewusst mache, auf welcher Beinbewegung die nächste Fingerbewegung folgt. Wer Finger und Beine koordinieren kann, bzw. die Beinbewegung als Impuls für die Fingerbewegung spürt, spielt einen präzisen Rhythmus über einem gleichmäßigen Puls mit einer quasi natürlichen Selbstverständlichkeit. So verlegen wir die Vermessung der Zeit aus dem Kopf, der die Tondauer nur abschätzen kann, in den Körper, genauer in die Beine, die sich wie ein Pendel eines Uhrwerks bewegen. Dann gilt der Spruch: den Rhythmus oder Puls „im Blut“ zu haben.

Jedoch passiert es häufig, dass der Puls nicht gleichmäßig fließt. Dann schaue ich mir das Gehen genauer an. Ich hatte einen Schüler, der rhythmisch sehr präzise gespielt hat, jedoch immer knapp neben dem Schlag. An seinen Schritten beobachtete ich, dass er beim Gehen die Knie nicht anhebt, sondern nur abwinkelt und die Fersen nach hinten schleudert. Der Schlag des Taktes soll die Bodenberührung des Fußes sein. Bei meinem Schüler hatte die Schleuderbewegung der Ferse jedoch einen viel stärkeren Impuls, als das Aufsetzen des Fußes auf den Boden. Wir konnten seine Ungenauigkeit beim Puls zeitlich genau messen: es war die Zeitdauer vom Wegziehen des Fußes vom Boden bis zum äußersten Ausschlag der Ferse, eine minimale Zeitdauer. Jedoch sehr deutlich hörbar und bis zur Analyse für ihn zum Verzweifeln. Mit dieser Erkenntnis ist endlich auch eine Lösung möglich: ich bat ihn, beim Gehen das Knie zu heben und den Fuß von oben auf den Boden aufzusetzen, die Beinbewegung also vertikaler auszuführen. Ab diesem Moment war er immer „in time“, spielte immer genau auf dem Schlag. Und dies mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit.

 

DIE BEINE SIND DIE DIRIGENTEN DER FINGER.

Für mich macht es erst dann Sinn, beim Üben ein Metronom einzusetzen, wenn das Gehen bewusst ausgeführt werden kann. Sonst versucht der Kopf, mit den Fingern (den Griffen) auf das Metronom zu zielen, anstatt mit gleichmäßigen Schritten mit den Impulsen des Metronoms mitzufließen. Das Metronom sendet einen Impuls aus, den wir über unser Pulsgefühl aufnehmen, welches wiederum durch das Gehen sichtbar wird. Auf diesem Kanal empfangen wir in der Band den Beat des Schlagzeugers oder im Orchester die Armbewegungen des Dirigenten. Unsere Schritte dirigieren dann unsere Finger und nicht der Kopf durch Denken. Erst wenn ich dies so auch spüre, dass sich die Finger nach den Schritten richten, gehe ich bewusst, ist mir mein Pulsgefühl bewusst. Erst wenn ich zum Spielen gehen kann, bin ich bereit, mit anderen zusammen zu spielen. Denn erst dann ist mein Pulsgefühl-Kanal auf Empfang geschaltet.

Das Gehen macht auch den musikalischen Verlauf des Pulses sichtbar, diesen Wechsel von betonter und unbetonter Zählzeit. Bei der Bodenberührung spürt der Fuß das ganze Körpergewicht, mit dem Heben des Beines entlasten wir den Fuß. Es ist also ein Wechsel von schwer und leicht. Wie der Wechsel von Schlag und „und“, der Achtel, die zwischen den Schlägen liegt oder der Wechsel von 1 zur 2, von betonter zu unbetonter Zählzeit. Dies können die Beine mit einer aktiven Schrittbewegung auch anzeigen und deutlich machen. Das wird hörbar sein: wir spielen plötzlich viel bewegter, nicht schneller, sondern mit der Unterscheidung von „schweren“ und „leichten“ Klängen.

 

Über das Gehen beeinflusse ich sogar den Charakter der Musik. Das Aufsetzen des Fußes auf den Boden zeigt den Schlag des Pulses an. Dies muss aber nicht als Stampfen geschehen. Rockmusik, die einen geerdeten, dicken Beat hat, hat tatsächlich eher einen stampfenden Schritt. Swing dagegen muss viel leichtfüßiger wirken. Betone ich hier eher die Aufwärtsbewegung des Beines, also das Knie, wird die Bodenberührung leichter und ich mache gleichzeitig eine Auftaktbewegung mit den Beinen. Dadurch kann ich die „Swingachtel“ viel leichter hervorheben. Obwohl der Schlag entlastet wird, bleibt er dennoch deutlich spürbar.

Und warum reicht es nicht, einfach nur mit dem Fuß mit zu klopfen? Ich denke, diese Frage hat sich mit den Ausführungen zum Gehen erübrigt. Die Klopfbewegung ist viel zu klein, als dass sie so deutlich spürbar machen kann, was die abwechselnde Beinbewegung möglich macht. Vor allem dieser Wechsel von auf und ab, von schwer und leicht ist mit einer kleinen Klopfbewegung nicht darstellbar. Schließlich: wer hat schon mal ein Orchester erlebt, in dem sich alle Fußspitzen zugleich bewegen?

 

Schließlich gilt es noch zu erwähnen, dass das Gehen zum Spielen nur eine Übemethode ist. Sobald man sich damit sicher und souverän fühlt, sollte man das Stück ohne zu gehen spielen. Auf der Bühne sollte man jegliche monotone Bewegung vermeiden, also auch das Klopfen des Fußes! Diese Übemethode wird dir jedoch zu einer ganz natürlichen Körperbewegung zur Musik verhelfen. Wenn du vorher an bestimmten Stellen des Stückes noch angespannt und unsicher gewesen bist, wirst du dich plötzlich frei und im Fluss mit der Musik fühlen.

 

Ich hoffe, dich mit diesen Ausführungen motiviert zu haben, diese Übemethode anzuwenden. Das „Mitklopfen“ ist nur scheinbar eine Hilfe, aber das Gehen verändert dein ganzes Spiel!